Erkrankungen der Atemwege sind das vorherrschende Merkmal bei COVID-19 Patienten, Schlaganfälle, Thrombosen, Nierenversagen, Herzmuskelerkrankungen sowie Gefäßentzündungen können aber hinzukommen und das Krankheitsbild weiter verschlimmern. Neben den typischen Symptomen eines akuten Lungenversagens haben die Patienten durch Blutgerinnsel verursachte Verletzungen in den Kapillargefäßen der Lunge. Zusammen mit der beobachteten verringerten Anzahl an Blutplättchen und vermehrt auftretenden Abbauprodukten eines Proteins der Blutgerinnung spricht dieses klinische Bild für eine Komplementaktivierung. Vor diesem Hintergrund diskutiert Professor Garret A. FitzGerald, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des DZHK, im The Journal of Clinical Investigation Hinweise für eine mögliche Beteiligung des Komplementsystems bei COVID-19 und welche neuen therapeutischen Optionen sich daraus ergeben könnten.
Immer auf Patrouille
Das Komplementsystem gehört zur unspezifischen Abwehr unseres Körpers und reagiert sofort, wenn Bakterien, Viren oder andere Fremdkörper auftreten. Es besteht aus mehr als 30 unterschiedlichen Proteinen, die im Blut zirkulieren oder auf der Oberfläche von Zellen sitzen und permanent in Alarmbereitschaft sind. Diese unspezifische Immunantwort kann über drei Wege aktiviert werden: den klassischen, den Lectin- und den alternativen Weg. Alle drei Wege haben eine gemeinsame Endstrecke – die Bildung der Komplementfragmente (Anaphylatoxine) C3a und C5a und „membrane attack complex“ (MAC C5b-9), die eine Aktivierung von Neutrophilen und Monozyten, die Bildung von NET (neutrophil extracellular trap) und Blutplättchen-Neutrophil-Komplexen sowie die Freisetzung von „tissue factor“ (Gewebefaktor) verursachen. Die dadurch verursachte Aktivierung des extrinischen Gerinnungswegs kann zu dem bei COVID-19 beschriebenen hyperkoagulatorischen Status beitragen. MAC C5b-9 kann direkt das Endothel schädigen. Anfänglich hilft das Komplementsystem also eine Infektion einzudämmen, doch in einem späteren Stadium steigt das Risiko, dass das Komplementsystem überaktiviert wird und Schäden verursacht. Ein Szenario, das auch bei COVID-19 wahrscheinlich erscheint.
Spurensuche im Labor und bei Patienten
Eine kürzlich veröffentliche Arbeit zeigt, dass das Nukleoprotein des Coronavirus direkt mit einer am Lectin-Weg beteiligten Protease interagiert und so das Komplementsystem aktivieren könnte. Außerdem ist es laut Fitzgerald bei Coronavirus-Infektionen möglich, dass Antikörper gegen virale Bestandteile den klassischen Weg in Gang setzen und der alternative Weg durch freigesetzte Membranproteine abgestorbener Zellen abläuft.
Aus China gibt es Hinweise für eine entscheidende Rolle der Komplement-Fragmente C3a und C5a bei dem sogenannten Zytokin-Sturm, der bei sehr schweren COVID-19-Fällen beobachtet wird. Dabei werden Botenstoffe des Abwehrsystems, die Zytokine, unkontrolliert freigesetzt und die Immunantwort entgleist. Bei mehreren chinesischen COVID-19- Patienten spiegelte die Menge an C5a im Plasma die Schwere der Erkrankung wider. Für eine zentrale Rolle von C5a spricht zudem, dass sich bei zwei dieser Patienten das Fieber senkte und die Sauerstoffsättigung im Blut zunahm, als sie einen monoklonalen Antikörper gegen C5a erhielten.
Mögliche Erklärung für Blutgerinnungsstörungen
Das Komplementsystem könnte auch mitverantwortlich für die bei COVID-19 häufig auftretenden Blutgerinnungsstörungen und damit verbundenen Schäden in kleinen Blutgefäßen sein. Wenn ein atypisches akutes Lungenversagen (atypisches Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) COVID-19 verkompliziert, fanden sich Ablagerungen von Komplement-Fragmenten (C4d, MASP2 und C5b-9) in der Lunge und im Mikrogefäßsystem der Haut. Bei Mäusen haben Wissenschaftler herausgefunden, dass Verletzungen der kleinsten Gefäße und Thrombosen in Kapillargefäßen über den MAC ausgelöst werden, wohingegen die beiden Komplementfragmente C5a und C5aR bei den Nagern eine systemische Blutgerinnungsstörung hervorrufen.
Komplementsystem gezielt hemmen
Patienten mit schweren Verläufen von COVID-19 erhielten bereits in individuellen Heilversuchen die zugelassenen Medikamente Eculizumab (Antikörper gegen C5a) oder den rekombinanten C1 Esterase Inhibitor RUCONEST (zugelassen bei hereditärem Angioödem) oder einen experimentellen C3 Inhibitor. Diese Fallberichte sprechen für einen günstigen Einfluss der Komplement-Hemmung auf das Krankheitsgeschehen ohne schwere unerwünschte Wirkungen. Damit eröffnen sich neue Optionen für die Behandlung von schweren COVID-19-Verläufen. Um die richtigen Medikamente für zukünftige Studien auszuwählen, muss erforscht werden, welche Rolle die einzelnen Komplement-Wege spielen, wie die Medikamente am besten verabreicht werden und wie hoch das Risiko möglicher Begleitinfektionen ist. Mehrere kontrollierte klinische Studien sind angelaufen, um die tatsächliche Wirksamkeit und Sicherheit der Komplement-Hemmung bei Covid-19 zu untersuchen.
Originalpublikation: Song WC, FitzGerald GA. COVID-19, microangiopathy, hemostatic activation, and complement [published online ahead of print, 2020 Jun 22]. J Clin Invest. 2020;140183. DOI: 10.1172/JCI140183
Übersetzt und zusammengefasst durch Cordula Baums (MasterMedia GmbH) und Prof. Thomas Eschenhagen (DZHK-Vorstandssprecher, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf [UKE])
Ein Kommentar
Dass Covid-19 mit einer vermehrten Rate thromboembolischer Komplikationen einhergeht, ist seit einigen Monaten klar und hat zu einer der gerade anlaufenden DZHK-Studien geführt, die kontrolliert prospektiv die Wirkung des Faktor Xa Hemmers Rivaroxaban bei Covid-19 untersucht (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT04416048). Die zugrundeliegenden Mechanismen für die gesteigerte Blutgerinnung sind im Einzelnen unklar. DZHK-SAB-Mitglied Garret Fitzgerald fasst nun in seinem vor kurzem erschienenen Übersichtsartikel aktuelle Befunde und Überlegungen zusammen, die für eine kritische Bedeutung einer überschießenden Komplementaktivierung bei Covid-19 sprechen. Der Beitrag reiht sich ein in eine wachsende Zahl von ähnlichen Beobachtungen und ersten Therapieversuchen mit Komplementinhibitoren (aktuell 23 Studien in clinicaltrials.gov), die vielleicht zu einer neuen Therapie schwerer Covid-19 Fälle führen.