Der Göttinger Mikrobiologie und Genforscher Gerhard Gottschalk hat schon viele Ausbrüche erlebt und weiß: mit seinem Erfindungsreichtum kann der Mensch die Mikroben besiegen.
Ein Bakterium wird bösartig
Es ist knapp neun Jahre her, dass wir in Deutschland, besonders in den norddeutschen Bundesländern eine Bakterien-Epidemie zu bekämpfen hatten. In den Monaten Mai und Juni 2011 erkrankten 4300 Menschen, davon 850 schwer, 50 Menschen verstarben. Ausgelöst wurde diese Epidemie durch EHEC. In dieser Abkürzung steht EC für unser Darmbakterium Escherichia coli und EH für enterohämorrhagisch. Dieses Bakterium kann also Blutungen im Darm hervorrufen. Was war da aus unserem harmlosen E. coli entstanden? Durch Aufnahme genetischer Elemente war er zu einem Produzenten des gefährlichen Shiga-Toxins geworden, er konnte im Darm zu Zellverbänden aggregieren, und er war ungewöhnlich infektiös.
Von 100 Zellen überstanden so viele die saure Magenpassage, dass sie sich im Darm vermehren und eine Erkrankung auslösen konnten. Von anderen E. coli-Stämmen sind dafür 100.000 Zellen erforderlich. Das muss man sich einmal vorstellen. Einhundert Bakterienzellen können eine äußerst gefährliche Erkrankung auf den Weg bringen. Das ist praktisch gar nichts, sie wiegen weniger als ein Milliardstel Gramm. Wo kam dieser Stamm her? Offenbar wurde er mit dem Samen für die Zucht von Bambussprossen eingeschleppt. Im Wachstumsmedium für die Sprossen vermehrten sich die eingeschleppten Zellen prächtig.
Von EHEC lernen
Zwei Göttinger Ärztinnen besorgten sich für die Rückreise von einer Tagung belegte Brötchen. Eine hatte ihr Brötchen mit Sprossen belegen lassen. Nur sie und nicht ihre Kollegin hatte nach fünf Tagen mit einer blutigen Diarrhoe zu kämpfen. Nach weiteren drei Tagen hatten sich ihre Blutwerte so verschlechtert, dass sie im Göttinger Universitätsklinikum aufgenommen werden musste. Mehrfach musste sie sich einer Plasma-Apherese, einer Blutwäsche, unterziehen. Für etwa zehn Tage war sie EHEC-positiv. So oder so ähnlich erging es den 850 schwer Erkrankten, von denen wie erwähnt 50 verstarben.
Das Deutsche Gesundheitssytem arbeitete in jenen Monaten hervorragend. In Zusammenarbeit des Robert Koch-Instituts mit dem von Helge Karch geleiteten Konsiliarlabor in Münster wurde die Diagnostik des Deutschen Ausbruchstamms in wenigen Tagen aufgebaut. Er konnte in Proben von Patienten identifiziert und Therapien konnten eingeleitet werden. Es handelte sich ja um Bakterien und deshalb konnte die Epidemie mit Hilfe von Antibiotika schnell gestoppt werden.
Viren haben keinen Stoffwechsel
Alles ist anders, wenn jetzt Sars-CoV-2 unter die Lupe genommen wird. Ähnlich wie EHEC ist dieses aus einem weit weniger pathogenen Stamm entstanden. Damit hören die Ähnlichkeiten aber schon auf. Zunächst muss betont werden, dass Bakterien und Viren grundverschieden sind. Bakterien sind Lebewesen. Wir nehmen eine Fleischbrühe, erhöhen ihren Nährwert durch Zugabe von Zucker. Jetzt werden Bakterien hinzugefügt, etwa Escherichia coli, Bacillus subtilis oder Pseudomonas fluorescens. Die Bakterien wachsen und vermehren sich, die Brühe wird innerhalb von zehn Stunden trüb. Milliarden von Bakterien sind entstanden.
Das Experiment wird mit allen möglichen Virusarten wiederholt. Nichts passiert. Die Viruspartikel liegen einfach herum, mit der Zeit lösen sie sich auf. Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel. Sie verfügen nur über die genetische Information, infizierte Zellen so zu programmieren, dass alle Bestandteile für die Bildung ihrer Nachkommen synthetisiert werden. Sie benötigen also einen Wirt zu ihrer Vermehrung.
Extrem hohe Ansteckungsgefahr bei Sars-CoV-2
Was ist mit den Coronaviren passiert, dass sich daraus ein so infektiöses und gefährliches Virus wie Sars-CoV-2 entwickeln konnte. Da wurde kein neues genetisches Material aufgenommen wie im Falle von EHEC. Die wohl wichtigste Veränderung ist, dass die Spikes nicht mehr ihre eigentliche Länge haben. Sars-CoV-2 ist ja ständig im Hintergrund bei Fernsehsendungen zu sehen. Man erkennt die Spikes, Nadeln mit Köpfen, die aus dem Viruspartikel herausragen.
Mit ihrer Hilfe binden die Viruspartikel an sogenannten ACE2 Rezeptoren der Opferzelle. Nach der Bindung kommt es zur Verschmelzung der Hüllen und die virale Erbsubstanz fließt in die Opferzelle. Bei Sars-CoV-2 sind diese Spikes verkürzt und besitzen wohl deshalb eine erhöhte Bindungsaffinität an die Rezeptoren. So wird bereits der Rachenraum infiziert, und schon dort werden massenhaft Viren gebildet. Dadurch besteht eine extrem hohe Ansteckungsgefahr.
Mit Lutschpastillen das Coronavirus abfangen?
Weltweit wird fieberhaft an der Entwicklung eines Impfstoffes und von Chemotherapeutika gearbeitet. Wann ein Durchbruch erzielt werden kann, ist zur Zeit nicht abzusehen. Die Frage ist, ob es nicht weitere Ansatzpunkte für Therapieentwicklungen gibt, die bisher nicht die nötige Aufmerksamkeit erhielten. Ein solcher Ansatzpunkt ist eine mögliche Blockade der Bindung der Viren an den Rezeptor ACE2. Könnte die Bindung unterbunden werden, dann käme es zu keiner Infektion. Zwei Wege sind vorstellbar.
ACE2 wird gentechnisch hergestellt und an eine Matrix gebunden. Diese wird Teil eines Sprays oder von Lutschpastillen. Mit diesen Mitteln ließe sich Sars-CoV-2 im Mund bzw. im Rachenraum abfangen. Diese Möglichkeit wird bereits von dem Österreichischen Unternehmen Apeiron untersucht. Wäre es nicht wunderbar, wenn Pastillen-lutschende Seniorinnen und Senioren ihre Kinder und Enkelkinder wieder in ihre Arme schließen könnten?
Mit Virusatrappen den Rezeptor austricksen
Faszinierend ist die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Virus-Attrappen zu schützen. Zu ihrer Gewinnung geht man von Liposomen aus. Das sind winzige, in sich geschlossene Bläschen (Vesikel). Sie bestehen aus Phospholipiden, dem Hauptbestandteil der Zellmembranen. Liposomen haben mit den Zellmembranen gemeinsam, dass sie bestimmte Proteine einbauen können; es sind Proteine, die Stoffe beispielsweise von der einen Seite, von „draußen“, zur anderen, nach „drinnen“, transportieren, bestimmte Signale weitergeben oder mit anderen Proteinen interagieren, wie es die Spike-Proteine tun. Sie werden gentechnisch hergestellt; geleitet von chemischen Wechselwirkungen wandern sie dann unter geeigneten Bedingungen in die Liposomen. Dort sind sie so angeordnet, dass sie mit dem ACE2-Rezeptoren in Wechselwirkung treten können.
Es sind Virus-Attrappen, denn im Inneren der Liposomen gibt es keine Erbsubstanz. Durch ihren Kontakt mit den ACE2-Rezeptoren würde aber den echten Viren der Weg in die Opferzellen verbaut werden. Eine massenhafte Vermehrung der Viren bliebe unter Umständen aus. Es ist dringend geboten, Coronavirus-Attrappen zu konstruieren und auf ihre Wirkung in Konkurrenz mit den echten Viren hin zu untersuchen. Virus-Attrappen wurden übrigens vor einigen Jahren bereits von Influenzaviren hergestellt.
Der Artikel erschien zuerst im Göttinger Tageblatt.
Der Autor ist emeritierter Professor für Mikrobiologie und Genomforschung an der Georg-August-Universität Göttingen, er war Rektor der Göttinger Universität, Präsident der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften